Vom Tempel in die virtuelle Welt:
Eine kurze Geschichte der Erinnerungsräume
Foto von George Williams
Der Umgang mit der Sterblichkeit ist ein grundlegender Bestandteil aller menschlichen Kulturen. In den verschiedenen Epochen haben die Menschen ganz unterschiedliche Wege gefunden, Trauer zu verarbeiten. Ein Aspekt dabei ist die Entstehung und Entwicklung von Trauerräumen. Das sind Orte, die zunächst einmal das Abschiednehmen ermöglichen – teilweise auch vom aufgebahrten Körper – und später dann Raum zum Erinnern bieten und Trost spenden. Im 21. Jahrhundert existieren diese Räume nicht mehr länger nur in der physischen, sondern auch in der virtuellen Welt.
Von religiös…
In der Antike gab es verschiedene Rituale und Praktiken, um Verstorbene zu ehren und die Trauer zu verarbeiten. Bestattungen waren oft mit religiösen Zeremonien verbunden, bei denen spezielle Orte wie Tempel oder Grabstätten eine zentrale Rolle spielten. Im antiken Ägypten glaubten die Menschen zum Beispiel an ein Leben nach dem Tod und errichteten prächtige Grabanlagen mit Symbolen und Hieroglyphen. Im mittelalterlichen Europa spielten dann christliche Klöster eine wichtige Rolle, die Gedenkstätten und Gruften errichteten. „Memento mori“, lateinisch für "Denke daran, dass du sterben musst", wurde zu einem häufigen Thema in Kunst und Architektur. In den Dördern und Städten wurden Kirchen und Kapellen zentrale Orte der Trauer und Besinnung.
…über rational…
Mit der Industrialisierung und dem Wachstum der Städte im 19. Jahrhundert entstanden moderne Friedhöfe, die eine strukturierte und organisierte Bestattung ermöglichten. Grabsteine, Denkmäler und Mausoleen wurden zu Ausdrucksformen der Trauer und des Gedenkens. Die Idee, Trauerorte zu gestalten, die über religiöse Funktionen hinausgehen, gewann an Bedeutung. Lokale Erinnerungsorte etwa für gefallene Soldaten aus der Region entstanden und ermöglichten kollektives Trauern vor Ort. Mit dem Rückgang der Religiosität in Europa wandelte sich die Trauerkultur im Laufe des 20. Jahrhunderts weiter. Trauerräume erweiterten sich von Friedhöfen und Kapellen auf Krankenhäuser, Hospize, öffentlichen Gedenkstätten und auch auf intimen Plätzen, etwa Parkbänken an Orten, die einen persönlichen Bezug zur verstorbenen Person hatten. Die Gestaltung dieser Räume setzt auf Elemente wie Licht, Natur und Symbolik und wird zunehmen rational darauf ausgerichtet, eine für die Trauerbewältigung unterstützende Atmosphäre zu schaffen.
…zu digital
Heute ermöglichen erstmals virtuelle Trauerräume Menschen ganz unabhängig von ihrem Aufenthaltsort, gemeinsam zu trauern und zu gedenken. Der physische Raum wird hier nur noch simuliert und tritt in den Hintergrund, wodurch mehr Möglichkeiten der Partizipation entstehen, beispielsweise für Menschen mit eingeschränkter Mobilität. Außerdem bieten digitale Räume, die mit wenigen Klicks vom eigenen Zuhause aus erreicht werden können, mehr Zeit für die eigentliche Trauerarbeit, da keine Zeit für das körperliche Bewegen zu einem bestimmten Ort benötigt wird. Zentral für das Erinnern und Gedenken sind nämlich nicht physische Räume, sondern die Gedankenräume der trauernden Menschen.
Gehen wir nun noch mal zum Anfang zurück: Stellen Sie sich noch einmal vor, ein Ihnen nahestehender Mensch stirbt. Und Sie können nicht zur Abschiedszeremonie. Und nicht auf den Friedhof. Sie können keinen Ort erreichen, an dem Sie gedenken und sich Abschied nehmen können. Würden Sie dann einen virtuellen Raum nutzen, in dem Sie gemeinsam mit echten Menschen trauern und zusammen die Erinnerung lebendig halten können?
Schreiben Sie uns, wie Sie darüber denken!
Stefan Heimann - aktualisiert am 09.02.2024